Der COP27-Gipfel hat viele Menschen unzufrieden zurückgelassen. Afrikanische Länder haben das Gefühl, dass sie nicht ausreichend für Klimaschäden entschädigt werden, die sie nicht verursacht haben. Erdöl-exportierende Länder, suchen nach Möglichkeiten, die Einnahmen durch andere Einkünfte zu ersetzen, sind bisher daran jedoch gescheitert. Während westliche Aktivisten einen Corona-ähnlichen Shutdown der Gesellschaft als einzig gangbaren Weg zur Verringerung der Kohlendioxidemissionen ansehen. Die Koordination zwischen all diesen Positionen ist schwierig – vor allem, weil es keinen Richter mit der Autorität zur letzten Entscheidung gibt.
Bilder von Fahd Al-zein, Text: Thorsten Veblen
Der COP27-Gipfel in Sharm el Sheik, wo die Staats- und Regierungschefs der Welt über das Ende der fossilen Wirtschaft diskutierten, ist vorbei. Doch nicht alle sind mit den Ergebnissen zufrieden. Europäische Politiker wie Frans Timmermans, Nichtregierungsorganisationen, Klimaaktivisten und grüne Politiker, oft aus wohlhabenden Industrieländern, gaben frustrierte Erklärungen über die Fossilen-Lobbies und die ölexportierenden Länder ab, die die notwendigen Schritte zur Dekarbonisierung unserer globalen Energieversorgung vereiteln. Während vor allem junge aufstrebende Aktivisten ohne Verantwortung gegenüber dem Rest der Gesellschaft das Verschütten von Suppe über Gemälde und das Festekleben an Autobahnen bereits als ausreichenden Beitrag betrachten, ist die Umstellung einer Weltwirtschaft angetrieben durch fossile Brennstoffe auf nachhaltige Energiequelle ein weitaus anspruchsvolleres Unterfangen. Eines, das gut geplant, vorbereitet und schließlich präzise ausgeführt werden muss: Andernfalls drohen Chaos und Unruhen, unter denen die Ärmsten der Welt am meisten zu leiden hätten.
Ägypten, das Gastgeberland der diesjährigen COP27, ist selbst ein Erdöl exportierendes Land. Mit einer geschätzten Bevölkerung von 104 Millionen Menschen ist es eines der größten Länder, das (teilweise) von den Einnahmen aus fossilen Brennstoffen lebt, da es in dem meist menschenleeren Land keine alternativen Einkommensmöglichkeiten gibt. Um zu veranschaulichen, wie kompliziert das Unterfangen ist, sich von fossilen Brennstoffen zu befreien, ohne einem großen Teil der Weltbevölkerung Schaden zuzufügen, nimmt uns Fahd mit an seinen Arbeitsplatz: Ausgerechnet eine Bohrinsel, die von einer Ölquelle im Mittelmeer zu einer anderen übersiedelt werden muss, dient als Analogie für die Komplexität des grünen Übergangs zu erneuerbaren Energien. Genau, wie die Bohrinsel muss auch unsere Weltwirtschaft als Ganzes aus den Angeln gehoben werden und an einer neuen Stelle eingebettet werden.
Die Bohrinsel wird für den Umzug vorbereitet
Bevor die komplexe Konstruktion auch nur einen Meter bewegt werden kann, muss der Barge Captain Berechnungen zur Stabilität anstellen. Diese Berechnungen entscheiden, welche Ladung die Plattform an Bord behalten kann, um die Stabilität während der Fahrt zu gewährleisten. Der Rest wird auf Begleitschiffe umgeladen. Die verbleibende Ladung muss mit Gurten gesichert werden, um sicherzustellen, dass nichts über Bord geht. Eine der größten Herausforderungen besteht darin, die richtigen Mengen an Wasser und Treibstoff zur Erreichung des neuen Standorts mitzuführen.
Wirtschaftswissenschaftler führen durchaus vergleichende Berechnungen durch, wenn es um den Übergang der Wirtschaft als Ganzes geht – und um deren Stabilität zu gewährleisten. In Dänemark beispielsweise arbeiten 80 Personen, von Doktoranden bis hin zu Professoren, an einem Modell, um den aktuellen Zustand der Wirtschaft zu analysieren und was es benötigt, um sie in einen anderen Zustand zu bewegen: wie viele Fachkräfte, Inputs in Form von Sonnenkollektoren oder Finanzkapital sind erforderlich? Andere, wie das Wegener-Institut in Graz, führen Analysen darüber durch, welche Auswirkungen Steuerreformen auf Haushalte mit niedrigem Einkommen haben könnten oder wie sich der Übergang auf bestimmte Wirtschaftszweige, z. B. die Lebensmittelproduktion, auswirkt. Hat eine dekarbonisierte Wirtschaft genug Proviant für die aktuelle Bevölkerung?
Bevor man also mit dem Umbau der Wirtschaft beginnen kann, müssen die Kosten ermittelt werden und vor allem, wer sie trägt. Nicht nur die direkten Kosten, z.B. für neue Photovoltaik- und Windkraftanlagen oder die Schäden durch den Klimawandel. Sondern auch die Kosten des Wandels müssen betrachtet werden: Wie uns die aktuelle globale Krise an Lebenshaltungskosten lehren, verursachen hohe Energiepreise auch hohe Lebensmittelpreise: Düngemittel brauchen CO2 und Methan, Traktoren und andere Maschinen brauchen Treibstoff, Lebensmittelsysteme sind auf stromintensive Kühlanlagen angewiesen. Dies führt zu höheren Preisen für diejenigen, die ohnehin schon wenig Geld haben. In Ägypten zum Beispiel lebt mehr als ein Viertel der Bevölkerung von weniger als 3,20 US-Dollar pro Tag, mit hohen Ausgaben für Grundnahrungsmittel.
Sonnenuntergang über dem Heliport der Rig
Gemessen an einem mehrdimensionalen Ansatz ist die Zahl der Armen Ägyptens jedoch viel geringer: 4,1 Prozent der Menschen haben keine Wohnung, keine Schulbildung und nicht ausreichende Lebensmittel. Die Weltbank hob hervor, dass Ägypten mit Blick auf vergleichbare Länder bei der Subventionierung von Konsum, Schulbildung und Grundversorgung gut abschneidet.
Diese Ausgaben für Schulbildung und Nahrungsmittelsubventionen speisen sich jedoch zu großen Teilen aus Erdöleinnahmen. Der Rohstoffsektor, größtenteils Ölförderung, trug 2021 etwa zehn Prozent zum ägyptischen Bruttoinlandsprodukt bei. 2021 beliefen sich die Einnahmen aus dem Erdölexport mit 8,5 Milliarden US-Dollar auf rund ein Drittel aller Devisen. Das macht etwa 85 US-Dollar für jeden ägyptischen Bürger oder 300 US-Dollar für einen durchschnittlichen ägyptischen Haushalt aus – nicht schlecht für ein Land, in dem das durchschnittliche Einkommen eines Haushaltes pro Jahr bei 2.800 Dollar liegt. Mit diesen Devisen finanziert das Land seine Nahrungsmittelimporte, um die Bevölkerung zu ernähren. Die Exporteinnahmen aus Erdöl und Erdölprodukten sind daher für das Funktionieren des ägyptischen Staates und sogar das Überleben zahlloser Ägypter unerlässlich: Nicht weniger als 1,4 Millionen Staatsbedienstete in der öffentlichen Verwaltung, der Verteidigung und anderen staatlichen Organisationen (viele Bauunternehmen gehören zur ägyptischen Armee) stehen auf der Gehaltsliste des ägyptischen Staates. (Daten aus Egyptian in Figures, 2022)
Den Anker lichten
Schrauben (Spudcans) verankern die Plattform tief im Meeresboden, um sie bei den rauen Wetterbedingungen auf See während der Ölförderung stabil zu halten. Dies galt im wahrsten Sinne des Wortes auch für den Ölsektor während COVID-19, als die ägyptische Wirtschaft und die wichtigste Einnahmequelle des Landes, der Tourismus, der in normalen Zeiten Millionen von Haushalten mit Einkommen versorgt, zum Stillstand kamen. Selbst bei niedrigen Rohstoffpreisen halfen die Öleinnahmen der ägyptischen Regierung, Unternehmen und Arbeitnehmer in den am stärksten betroffenen Sektoren wie Tourismus und verarbeitendes Gewerbe zu unterstützen. Gleichzeitig wurden Bürger von der Steuer befreit und Bargeldtransferprogramme für arme Haushalte und irreguläre Arbeitnehmer ausgeweitet, so der IWF.
Bezogen auf die Gesellschaft bedeutet dies: Tausende von Gemeinden, die ihre Sozialstruktur auf der Grundlage angemessener Energiepreise organisiert haben, Milliarden von Einzelpersonen richteten ihre Wohnsituation, ihre Mobilität und ihre Berufswahl auf eine Wirtschaft aus, die auf billiger Energie basiert – sie haben ihre Lebensumstände buchstäblich in der Verfügbarkeit billiger Energie verankert. Möchte man alle diese Individuen auf einmal in Richtung einer klimaneutralen Zukunft in Bewegung setzen, so sollte man gut überlegen, wohin die Reise gehen soll – denn allzu schnell könnte die Masse ins Kippen geraten – ähnlich der Plattform sobald die Spudcans gelöst sind. Auch hier kann der Arabische Frühling Ägyptens als Analogie dienen: einige Experten führen dessen Ausbruch auf die damals stark gestiegenen Lebensmittelpreise zurück. Während in Ägypten auf den Frühling der arabische Herbst folgte, wurden Ägyptens Nachbarländer Libyen und Syrien sogar in brutalen Bürgerkriegen zerrissen.
Lösen wir also unsere Verankerung ohne ausreichende Stabilisierungsmaßnahmen, so riskieren wir ein nicht minderes Kippen in zahlreichen Gesellschaften. Wie sich dieser plötzliche Verlust der eigenen Energiequellen auswirken kann, beschreiben wir in unserem Magazin „Die postsowjetische Welt“, als die armenische Gesellschaft praktisch über Nacht einem solchen Entzug unterzogen wurde (hier erhältlich).
Teamwork und Koordination
Das reale Risiko beginnt erst, wenn die Takelage gelockert ist und die Plattform zum Ablegen bereit ist. Das Manöver, mit dem die riesige Konstruktion in Bewegung gesetzt wird, erfordert die Konzentration, Koordination und Interaktion vieler verschiedener Schiffe. Ohne sich gegenseitig zu sehen, müssen sich die verschiedenen Besatzungen aufeinander abstimmen und auf die Kompetenzen der anderen vertrauen, denn wenn die Trägheit der Masse überwunden ist, sind die Möglichkeiten, den Kurs der Plattform zu ändern, sehr begrenzt.
Das Gleiche gilt auch für Gesellschaften – wenn sie mit einem unüberlegten Ruck bewegt werden, drohen viele über Bord zu gehen. Doch ist erst einmal die Masse in Bewegung, ist es ebenso schwierig, diese wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Die derzeitige Inflation der Lebensmittel- und Energiepreise und die damit verbundene Staatsverschuldung der Schwellen- und Entwicklungsländer gibt uns einen Vorgeschmack auf das, was passieren könnte, wenn die Forderungen verschiedener Aktivisten mit einem einseitigen Fokus auf sofortigen Stopp aller fossilen Aktivititäten in die Realität umgesetzt würden.
Ein Schiff fährt voran
Ein Schiff zieht die Bohrinsel hinter sich her unter dem Kommando des Kapitäns auf der Plattform. Das ist der große Unterschied zu den Klimaverhandlungen: Es gibt keinen obersten Richter als letzte Instanz oder Kapitän, der die letzte Entscheidung trifft. Die Teilnehmer der internationalen Klimaverhandlungen müssen sich darauf verlassen, dass sie sich an ihre gegenseitigen Zusagen zur Verringerung ihrer Kohlenstoffemissionen halten und einen angemessenen Kurs über mehrere Jahrzehnte einschlagen, ohne dabei zu viele über Bord gehen zu lassen:
Auch wenn die Bohrinsel noch jahrzehntelang für die Ölindustrie im Einsatz sein wird, heißt das nicht, dass heute keine Pläne geschmiedet würden, sie im Anschluss daran durch eine sauberere Energiequelle zu ersetzen. Bevor jedoch Regierungen, Politiker und Vorstandsvorsitzende die Energiewende verantwortungsvoll ihre Bürger und Arbeiter in Gang setzen könnten, muss es einen Masterplan geben, der realistische Alternativen bietet: nicht nur für die Besatzungen an Bord der Bohrinseln, sondern auch für die Millionen Ägypter, die von den durch die Öleinnahmen finanzierten Transferleistungen abhängig sind. Daher ist es nur verantwortungsvoll, dass die Erdöl exportierenden und industrialisierten Länder nach praktikablen Lösungen suchen, bevor sie ihre Bevölkerung womöglich in Chaos stürzen.