Als der Glanz des Wandels verblasste und der Populismus erstarkte. Eine Analyse der Wahlbeteiligung seit Untergang des Kommunismus.
Mit Polen, der Slowakei und Ungarn haben zuletzt drei osteuropäische Länder gewählt. Die Ergebnisse sind keineswegs homogen. Während in Ungarn der rechtspopulistische Viktor Orban erneut seine absolute Mehrheit absicherte, gelang dem Linkspopulisten Robert Fico in Bratislava ein Stimmenzuwachs gegenüber der vorangegangenen Wahl. Dagegen haben die Rechtspopulisten der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zwar in Polen eine knappe Mehrheit davongetragen, dennoch könnte sie ihr Regierungsmandat nach acht Jahren verlieren.
Die Menschen des ehemaligen Ostblocks verfolgt seit langem der Ruf in Westeuropa, von Demokratie nichts zu verstehen. Denn ihre Wahlentscheidungen weichen sehr oft von dem ab, was man sich im Narrativ liberaler Redaktionsstuben erhofft. Dabei lassen sich die unterschiedlichen Wählerpräferenzen gar auf die Grenzen vergangener Imperien zurückführen.
2024 stehen erneut zahlreiche Wahlen in ehemals kommunistischen Ländern an – allen voran Belarus, Russland und der Ukraine. Ebenso schreitet man in Rumänien, Moldawien, Georgien, Kroatien, Serbien, Nord-Mazedonien, Bosnien sowie den ehemals kommunistischen ostdeutschen Bundesländern Thüringen, Brandenburg und Sachsen zur Wahlurne. In letzteren steht laut den aktuellen Prognosen die rechtspopulistische Alternative für Deutschland voran.
Unabhängig von Wählerpräferenzen gegenüber liberalen, konservativen oder populistischen Parteien ist jedoch, dass es zuerst das Vertrauen in die neu entstehenden demokratischen Institutionen war, das verloren ging. Im Ergebnis schmierten die Wahlbeteiligungen in den ehemals sozialistischen Ländern rasant ab. Zwar kann es viele Gründe für das Fernbleiben bei Wahlen geben, dennoch ist einer der Gewichtigsten die Zustimmung zu den bestehenden Institutionen und fehlendes Vertrauen in deren Funktionsfähigkeit.
Zentral-Osteuropa
Wahlbeteiligung bei nationalen landesweiten Wahlen in Zentralosteuropa. Ungarn, Polen, Tschechische Republik, Slowakei. (Quelle: Idea.int, 2022)
Obwohl man mit der Gewerkschaftsbewegung Solidarność federführend am Untergang des Ostblocks beteiligt war, lag die Wahlbeteiligung der Polen bei der ersten freien Wahl 1989 lediglich bei 60 Prozent und damit niedriger als den meisten anderen postkommunistischen Staaten. In weiteren landesweiten Wahlen fielen diese bis zur Jahrtausendwende kontinuierlich ab (erst bei den äußerst polarisierten Parlamentswahlen am 15. Oktober 2023 erreichte Polen mit einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent die höchsten Werte seit 1990).
Ein ähnliches Muster zeichnet sich bei der Wahlbeteiligung Tschechiens ab, während die Slowakei gar mit einer Wahlbeteiligung nahe bei 100 Prozent startete, die in den Folgejahren rasant fiel. Erst 2005 mit dem Beitritt der meisten zentral-osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union stieg die Wahlbeteiligung wieder – jedoch scheint dies eher mit dem Auftreten populistischer europakritischer Kräfte, wie der tschechischen ODS oder der polnischen PiS zusammenzuhängen, als mit einem Vertrauensschub in die europäischen Institutionen (wenngleich die Volksabstimmung zum EU-Beitritt beispielsweise Polens mit 77 Prozent für den Beitritt ausging bei einer erstaunlich hohen Beteiligung von 59 Prozent).
Ungarn, in der Viktor Orbans Fidesz-Partei seit 2010 die absolute Mehrheit hält, hielten sich die Wahlbeteiligungen über die Wahlen hinweg die Waage. Unter der polarisierten Stimmung der letzten Wahlgänge, in denen es der Opposition schrittweise gelang, sich zu formieren und sich ein Showdown am Horizont andeutete, strömten zuletzt schließlich viel mehr Ungarn an die Wahlurnen.
Rumänien und Bulgarien
Während die polarisierende Wirkung der Europäischen Union in den zentralosteuropäischen Ländern zu einem Anstieg der Wahlbeteiligung beigetragen hatte, war dies in zwei der jüngsten EU-Mitgliedsländern Rumänien und Bulgarien nicht der Fall. Weder pro-europäische Reformen im Vorfeld noch der Beitritt 2007 vermochte das Vertrauen der Wähler in die Institutionen zurückzugewinnen und diese an die Urnen zu locken. Dabei hatten die beiden ärmsten Länder der Union sehr vielversprechend begonnen: Über 80 Prozent der Bürger des Ostbalkans ließen es sich nicht nehmen, an den ersten Wahlen nach dem Ende der kommunistischen Regime teilzunehmen. Doch fielen diese in den folgenden Jahren rasant auf kaum mehr als 50 Prozent, in Rumänien war man zuletzt gar bei 30 angelangt. Selbst die Vorbereitung auf den EU-Beitritt und die Modernisierung der demokratischen Institutionen, die dafür nötig waren, vermochten es nicht, das Vertrauen der Bürger Rumäniens und Bulgariens zurückzugewinnen.
Ex-Jugoslawien
Beteiligung bei landesweiten nationalen Wahlen ehemaliger jugoslawischer Republiken. Slowenien, Kroatien, Serbien, Nord Mazedonien, Kosovo, Bosnien und Herzegowina (Quelle: Idea.int, 2022)
Kaum optimistischer sieht die Entwicklung in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens aus: Slowenien, Kroatien und das heutige Nord Mazedonien starteten mit Wahlbeteiligungen zwischen 80 und 90 Prozent. Der Anteil der Wahlberechtigten, die in den Folgejahren zur Wahl gingen, sank rapide ab und lag in den letzten Jahren bei kaum mehr als 50 Prozent. Serbien begann bereits während seiner Entstehungszeit niedrig und pendelte sich nach dem Sturz des autokratischen Präsidenten Slobodan Milošević zur Jahrtausendwende zwischen 50 und 60 Prozent ein. Wobei hier auch noch weitere Zerfallsprozesse und die Abspaltung von Minderheiten anstanden – etwa der Kosovo oder Montenegro vor deren Abspaltung.
Die Bevölkerungen der beiden kriegszerrütteten Länder Bosnien-Herzegowina und Kosovo scheinen keinesfalls mehr Vertrauen in ihre Demokratie zu haben. Obwohl auch diese von Seiten der EU federführend beim Aufbau einer liberalen Demokratie nach westlichem Vorbild unterstützt werden, zahllose internationale (oder vom Westen finanzierte) Nichtregierungsorganisationen sowie die UNO ihren Beitrag leisten und gewaltige Beträge an Entwicklungszusammenarbeit in beide Länder fließen, scheint nichts davon von Erfolg gekrönt zu sein. Einige der Ausreißer nach unten im Kosovo können zwar auf den Wahlboykott der serbischen Minderheit zurückgeführt werden, doch wenn diese Minderheit zur Wahl geht, tut sie dies regelmäßig in weit größerer Zahl als ihre kosovo-albanischen Nachbarn, obwohl man den gesamtstaatlichen Institutionen sehr viel skeptischer gegenübersteht.
Ehemalige Sowjetunion
Wahlbeteiligung bei landesweiten Wahlen in ehemaligen Sowjetrepubliken. Moldawien, Ukraine, Estland, Lettland, Litauen, Russland (Russische Föderation), Armenien, Aserbaidschan, Georgien. (Quelle: Idea.int, 2022)
Auch in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gibt es kaum einen Unterschied zwischen jenen Ländern, die sich der Europäischen Union angenähert haben, und jenen, die weiterhin im Fahrwasser Russlands verblieben sind. Wenngleich oberhalb des Durchschnitts, vermochte auch der EU-Beitritt die Bürger der baltischen Länder nicht wieder vermehrt an die Urne zu locken. Auch hier war die Beteiligung bei den ersten Wahlen hoch, sank darauffolgend jedoch ab wie ein Stein im Wasser.
Interessanterweise trifft dieses Muster auch auf das muslimisch geprägte und im Südkaukasus gelegene Aserbaidschan zu. Selbst sein christlich geprägtes Nachbarland Georgien, welches mit der Wahl von Michail Saakaschwili und seiner Partei entschlossen in Richtung Westen marschierte, gelang nur ein kleiner Sprung in der Wahlbeteiligung. Diese sackte in den folgenden Jahren schließlich wieder ab. Lediglich Armenien gelang es aus diesem Muster auszubrechen und steigerte die Wahlbeteiligung von geringem Niveau aus deutlich an – doch auch hier hielt der Enthusiasmus der pro-westlichen Samtenen Revolution von 2018 nur kurz – und bereits im Jahr darauf fiel diese bei den folgenden Jahren auf das geringste Niveau seit Bestehen des jungen Landes.
Die Wahlbeteiligungen der Ukraine fielen ebenfalls sehr stark seit der Unabhängigkeit und selbst der Euromaidan und der aufkommende Krieg im Jahr 2014 ließ die Bevölkerung gerade einmal mit über 50 Prozent (die Bevölkerungen in den Separatistengebieten Lugansk, Donezk und der Krim nicht einbezogen) an die Wahlurnen strömen – sehr wenig, um daraus ein pro-westliches Statement abzuleiten, da insbesondere die Menschen der Ostukraine den Wahlurnen fernblieben. Und 2019 wurde es nicht besser, wobei ausgerechnet in den Frontgebieten Lugansks und Donezks die europaskeptische Plattform “Für das Leben” als einzige relevante Opposition die Mehrheit erhielt.
Russlands Red Belt
Russland, das mächtigste Artefakt des real existierenden Sozialismus, kämpfte von Beginn an damit, die Bürger an die Urnen zu bekommen. Das Land litt aufgrund der Lösung von im Kommunismus fixierten Preisen unter einer Hyperinflation, innerhalb weniger Jahre schossen die Preise um 2.000 Prozent in die Höhe. 15.000 staatliche Unternehmen, von der Fabrik über den Kiosk bis zu Medien, wurden privatisiert. Andernorts kursierte versteckte Arbeitslosigkeit in den dem Untergang geweihten Industrieunternehmen, dazu kam noch die Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz aufgrund des Zusammenbruchs jeglicher staatlicher Sicherheitsnetze. Der Staat war pleite und konnte seinen grundlegendsten Funktionen nicht mehr nachkommen, seinen Bediensteten keine Löhne und Rentnern keine Sozialleistungen mehr auszahlen. Stattdessen begann die Mafia die Straßen Moskaus sowie die meisten anderen Zentren zu regieren. Diese Schocktherapie, bestehend aus einer rapiden Abfolge wirtschaftsliberaler Reformen, verleidete den meisten russischen Bürgern den Drang nach Liberalismus westlicher Couleur.
Russlands Red Belt: Gewinne der kommunistischen Partei Russlands bei den Parlamentswahlen 1995 (Quelle: Politika.su, 1995)
Ähnlich dem amerikanischen Rust Belt, entstand eine Ansammlung von Industrieruinen, verfallenden Städten, in denen zusammen mit Arbeitslosigkeit eine Opioid- und Alkoholpandemie um sich griff, zum ersten Mal in der Geschichte sank die Lebenserwartung in den ehemals prosperierenden Kohle-, Stahl- und Textilindustrien des Landes. Vom Schock getroffen, errang die Kommunistische Partei Russlands in den meisten Regionen wieder Sieg. Insgesamt 22 Prozent der Stimmen konnte sie auf sich vereinigen. An zweiter Stelle rangierte mit 11 Prozent die ultranationalistische und rechtspopulistische Liberal-Demokratische Partei Russlands.
Erst danach folgte mit 10 Prozent Nasch Dom Rossija (Unser Haus Russland), gegründet durch die Funktionäre des Kremls, die mit dieser versuchten, ihre technokratischen marktwirtschaftlichen Reformen durchzusetzen. Da man diese von der Bevölkerung nicht bekam, wurden in der Folge die meisten davon mittels präsidialer Dekrete und Hinterzimmer-Deals durchgewunken – fernab jeder demokratischen Legitimation.
Unter dieser Stimmung war es ein Leichtes für die Kommunisten wieder nach der Macht zu greifen mit dem Versprechen, die alten Strukturen wieder herzustellen. Dem für dieses Chaos größtenteils verantwortlichen Präsidenten Boris Jelzin gelang, dank der massiven finanziellen Unterstützung der durch seine Politik reich gewordenen Oligarchen, seinen kommunistischen Herausforderer Gennadi Sjuganow dennoch zu schlagen. Dieselbe Oligarchen-Clique hievte schließlich auch den unscheinbaren KGB-Agenten Wladimir Putin an die Spitze. Bei dieser Wahl 1996 trat auch der überall im Westen als liberaler Befreier und Demokratisierer gefeierte Michail Gorbatschow an. Doch die westliche “Gorbimania” wollte nicht so recht übergreifen: nach der gescheiterten Liberalisierung der Sowjetunion und deren Zerfall erreichte er gerade einmal 0,5 Prozent der Stimmen.
Michail Gorbatschos. Der letzte Präsident der Sowjetunion, der bis heute im Westen für die Befreiung und die Liberalisierung der UdSSR gefeiert wird, erreichte zu Hause nur sehr geringe Popularitätswerte. Bei den Präsidentschaftswahlen 1996 ging er mit 0,5 Prozent annähernd leer aus. Hier bei einer Pizza Hut-Werbung 1997, die international ausgestrahlt wurde – allerdings nicht in Russland. (Quelle: Tom Darbyshire/YouTube, 2011)
Was bleibt vom demokratischen Wandel des ehemaligen Ostblockes
Am Beginn des Mehrparteienwahlrechts in den 1990er-Jahren, nach dem Fall der Einparteienstaaten, kann von Demokratiemüdigkeit oder Unverständnis demokratischer Wahlen der Bürger der ehemaligen Ostblock-Bürger keine Rede sein. Die ehemaligen Untertanen des real existierenden Sozialismus strömten in Massen an die Urnen. Doch scheinen für sie zahlreiche Versprechen des Westens nicht in Erfüllung gegangen sein. Insbesondere das Versprechen von Wohlstand verkehrte sich in den 1990ern für viele ins Gegenteil: Chaos brach aus. Zurückzuführen oft auf die Entscheidungen, zum größten Teil wirtschaftspolitischer Natur, die mit Hilfe westlicher Berater und Organisationen, allen voran dem Internationalen Währungsfonds, an den neu geschaffenen demokratischen Institutionen vorbeigetroffen wurden. Dies mit verheerender Auswirkung auf die Bürger. Warum wählen, wenn sowieso immer nur alternativlos gegen die eigenen Interessen entschieden würde?
Auf breiter Front verloren die Bürger ihr Vertrauen in das neue Regierungssystem. Der letzte Vorsitzende der deutschen Sozialistischen Einheitspartei (SED) und spätere Linken-Politiker Gregor Gysi begründet in einem phoenix-Interview den Unmut vieler Ostdeutscher: Man habe die beiden Deutschen Republiken nicht wiedervereinigt, sondern die neuen Bundesländer schlicht angeschlossen.
Das Selbstbild vieler im Westen, eines überlegenen Systems, dass man einfach nur als Blaupause andernorts anwenden müsste, sollte wohl ins Wanken geraten. Ganz im Gegenteil verringerte sich die Zustimmung zu den entstehenden Institutionen in den meisten Ländern merklich, insbesondere nachdem pro-westliche Reformen eingeleitet worden waren.
Erst durch das Aufkommen allgemein als populistisch angesehener und zumeist europakritischer Parteien nahmen wieder mehr Bürger an den Wahlen teil, was man im Westen sehr kritisch sah. Mehr noch: längst hat die Apathie bei Wahlen den Westen selbst ergriffen. Insbesondere in jenen Regionen, die ähnlich destruktiv vom strukturellen Wandel betroffen sind, wie die ehemaligen kommunistischen Länder. Gemeinsam ist ihnen eine hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Zukunftsperspektiven. Und auch hier bahnen sich mit Donald Trump in den USA, der Alternative für Deutschland, den Fratelli d’Italia oder Frankreichs Rassemblement National populistische Bewegungen ihren Weg in die Parlamente.