Mit 92 Prozent Teuerung des gesamten Verbraucherpreisindex liegt das südamerikanische Argentinien derzeit annähernd an der Spitze der Inflationsraten. Abgesehen von Venezuela, dass mit ganz eigenen Problemen kämpft, macht es dies nicht nur in Lateinamerika, sondern weltweit zu einem absoluten Spitzenreiter, was die Inflationsraten betrifft. Ein langfristiger Vergleich zeigt sogar, das Argentiniens Inflationsraten bereits seit Jahrzehnten davongaloppieren. Auch die anderen großen Wirtschaftsmächte des Kontinents, Brasilien und Mexiko hatten mit unkontrollierbaren Teuerungsraten zu kämpfen – Mexiko hatte bis Ende der 80er Jahre jährlich über hundert Prozent, erst mit den 90ern konnte man diese auf an die 20 und schließlich ab den 2000er Jahren unterhalb von zehn bzw. sogar fünf Prozent drücken. Brasilien fiel gar einer Hyperinflation anheim mit mehreren tausend Prozent, bis es sich zu ähnlich niedrigen Inflationsraten wie Mexiko durchgekämpft hatte. Dies alles kam jedoch zu einem teuren Preis, Brasiliens Wirtschaft brach in Folge der Zinserhöhungen massiv ein, noch in den 70er-Jahren hatte das Land jährliche Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts zum Teil über zehn Prozent, diese kollabierten schließlich auf bis zu Minus vier Prozent. Nicht ganz so drastisch, doch dasselbe Muster ereilte Mexiko, als es seinen Peso an den US-Dollar band.
Abbildung 1: Inflationsraten ausgewählter lateinamerikanischer Länder (in %)
Inflationsraten ausgewählter lateinamerikanischer Länder. Vergleich zum jeweiligen Vorjahr (in %). (Quelle: IWF, 2022)
Ähnliches hatte eigentlich auch Argentinien geplant, in den 90er-Jahren sogar mit vergleichbarem Erfolg, bis das Land schließlich 2001 in den Staatsbankrott schlitterte und von da an vergaloppierten sich auch die Inflationsraten wieder in schwindelnde Höhen. Dies ist besonders bemerkenswert, handelte es sich bei Argentinien schließlich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zu den reichsten Ländern der Welt auf Augenhöhe mit Deutschland und Frankreich. Während Mexiko seine Krise durch ein Hilfspaket sowie das Freihandelsabkommen mit den USA NAFTA überstand, gelang es Brasilien aufgrund der frühzeitigen Abwertung seiner Währung des Reals argentinische Exportanteile und Produktionskapazitäten und Investitionen argentinischer Firmen für sich zu gewinnen. Argentinien als Letzten bissen die Hunde und der Staatsbankrott war unausweichlich inklusive einer massiven Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation der Bürger und einem Einbruch der Wirtschaft um fast 20 Prozent. Seitdem bekam das Land seine Teuerung nicht mehr unter Kontrolle.
Mit 72,4 Prozent Inflation im Jahresmittel 2022 gegenüber dem Jahr 2021 reagiert Argentiniens Währung viel stärker als der lateinamerikanische Durchschnitt mit 14.1 Prozent. Darüber hinaus dürfte sich die Teuerung im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern 2023 auch nicht wieder auf nicht viel sinken. Noch klarer wird der Vergleich mit Mexiko und Brasilien, die als bedeutende Wirtschaftsmächte weit unter dem südamerikanischen Durchschnitt liegen.
Abbildung 2: Inflationsraten verschiedener Kategorien in Argentinien
Teuerungsraten unterschiedlicher Kategorien des argentinischen Warenkorbes. November 2022 gegenüber November 2021 in %. (Quelle: Argentinisches Nationales Institut für Statistik, 2022)
Ebenso wie im Rest der Welt auch sind Nahrungsmittel die treibende Kraft hinter der Teuerung, obwohl beide Nationen bedeutende Lebensmittelproduzenten sind in Form von Sojabohnen sowie Produkten wie Öl und Mehl daraus. Sowohl in Brasilien als auch Argentinien ist Bekleidung und Schuhwerk die Kategorie mit den höchsten Teuerungsraten (auch wenn aufgrund verschiedener Klassifizierung die Werte nur bedingt miteinander verglichen werden können – im Gegensatz beispielsweise des Harmonisierten Verbraucherpreisindex über alle europäischen Länder hinweg).
Abbildung 3: Inflationsraten verschiedener Kategorien in Brasilien
Teuerungsraten unterschiedlicher Kategorien des brasilianischen Warenkorbes. November 2022 gegenüber November 2021 in %. (Quelle: Instituto Brasileiro de Geografia e Estatistica, 2022)
Während in beiden Ländern Haushaltsgüter teurer werden, ist Wohnen, der auch Strom und Energie beinhaltet, als Kategorie an sich in Brasilien sogar gefallen. Dies ist zum Teil auf fatale Unterschiede in der Energieversorgung beider Länder zurückzuführen. Brasilien deckt zwei Drittel seines Bedarfes aus Wasserkraft, Biomasse, Solar und Wind – nur ein winzig kleiner Teil kommt aus fossilen Energien. Eine Besonderheit des Landes ist, dass der überwältigende Teil der brasilianischen Autos sowohl mit Benzin als auch mit Biodiesel betrieben werden kann, dass in Brasilien zum Großteil aus Zuckerrohr hergestellt wird. Ganz anders sieht der Primärenergiemix Argentiniens aus: 40 Prozent stammen aus Gas, welches zwar teilweise selbst produziert wird, doch auch zu weiten Teilen importiert werden muss. Hinzu kommen Ölimporte und nur ein verschwindend kleiner Teil aus erneuerbaren Energiequellen.
Selbst unter gleichen Bedingungen wäre die Inflation in Argentinien also höher als in Brasilien, aber der Verlust der Kontrolle über die eigene Währung bereits am Anfang des neuen Jahrtausends und damit völlig unzuverlässige Preissignale für die Marktteilnehmer führt auch zu wesentlich stärkeren Schwankungen der argentinischen Wachstumsraten insgesamt: Auf ein negatives Wachstum folgten sehr starke Wachstumsraten, aber kaum ein gleichmäßiges Wachstum. Die Investitionen blieben weiterhin zurück, und im Durchschnitt der Jahre blieb das argentinische Wirtschaftswachstum hinter dem aller vergleichbaren Länder zurück.
Abbildung 4: Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes in ausgewählten südamerikanischen Ländern
Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukt in Argentinien, Mexiko und Brasilien seit 1985. (Quelle: IWF, 2022)