Während der Rest der Welt an den Nachwirkungen der COVID-Pandemie leidet, erlebt Indien eine eindrucksvolle wirtschaftliche Renaissance. Im Schatten von Krisen baut Indiens junge, dynamische Generation eine moderne Industrie basierend auf Dienstleistungen und digitaler Produktion.
Die großen westlichen Wirtschaftsblöcke EU und USA dümpeln dahin, China laboriert an einer Krise auf seinen Immobilienmärkten und will nach strengsten Lockdowns nicht in Fahrt kommen. Zahlreiche Entwicklungsländer leiden unter den derzeitigen schwierigen Bedingungen der Weltwirtschaft und ihre Erholung von der COVID-19-Pandemie verzögert sich. Im Schatten dieser Krisenmeldungen entwickelt sich neben anderen großen Volkswirtschaften Südasiens, wie Indonesien, Bangladesch oder den Philippinen vor allem Indien zum Motor der Weltwirtschaft der nächsten Jahre.
Lange Zeit standen die Inder im Schatten Chinas, Heimat des zweiten Milliardenvolkes dieses Planeten. Während China innerhalb einer Generation extreme Armut in seinem Riesenreich praktisch ausradierte, litt man in Indien noch lange an einer Hindu-Wachstumsrate – ein Euphemismus für besonders niedrige Wachstumsraten bis in die 1980er-Jahre, die man auf die religiöse Ausrichtung des Landes zurückführte. Lange blieb man das Armenhaus der Welt, in absoluten Zahlen selbst noch vor Subsahara-Afrika.
In den nächsten Jahren wird Indien die höchsten Wirtschaftswachstumsraten aller großen Schwellenländer erreichen. Mittelfristig liegen relativ nur Bangladesch sowie Vietnam vor Indien.
Eine indische Mittelschicht ist im Entstehen
Obwohl sehr erfolgreich in der Armutsbekämpfung, hinkt Indien gemäß Weltbank-Daten immer noch anderen Ländern der Region, wie Bangladesch und Pakistan, hinterher. In absoluten Zahlen gelang es dennoch 135 Millionen Menschen aus der Armut zu befreien.
Doch gelang es zuletzt, innerhalb weniger Jahre 135 Millionen Inder aus absoluter Armut zu befreien, womit man sogar vor dem Zeitplan das Nummer 1-Ziel der Ausrottung der Armut bis 2030 liegt. Der Internationale Währungsfonds bestätigt dem Land zusätzlich, gut mit dem Schock der COVID-Pandemie umgegangen zu sein: 2020 schossen die Armutsraten zwar rasant in die Höhe, die Ausgaben der Regierung für Nahrungsmittel-Subventionen federten die Auswirkungen der Lockdowns allerdings massiv ab und drückten die Armutsraten wieder. Trotz dieser unvorhergesehenen Ausgaben hat das Land ein bequemes Polster an Devisen-Reserven für zukünftige Ausgaben. Während viele andere Schwellenländer unter der Schuldenlast zu straucheln beginnen, wird Indiens Neuverschuldung 2023 voraussichtlich weiter sinken.
Die Stabilität ist unter anderem auf erhöhte Importe aus Russland zurückzuführen. So erhöhte Indien seine Importe von Düngemitteln aus Russland mit 2,15 Millionen Tonnen um etwa 370 Prozent. Rohölimporte aus Russland stiegen gar um 1.000 Prozent im Jahr 2023, diese raffinierte das Land und exportierte sie in Form von Erdölprodukten weiter – vor allem ins stark angeschlagene Europa.
Insgesamt stabilisierte dies die Haushaltseinkommen weiter. Die Zahl der notleidenden Kredite liegt mit fünf Prozent so niedrig wie seit sieben Jahren nicht mehr, während sich die Menge an Bankkrediten für Dienstleistungen und Landwirtschaft stark ausweitete. Damit kompensiert der private Konsum der Inder und Investitionen in Bruttoanlagevermögen – der Leitzins musste dank einer vergleichsweise moderaten Inflation weniger stark steigen als in anderen Ländern – die Exporte in eine schwächelnde Weltwirtschaft. Nachgefragt werden von der Bevölkerung vor allem Dienstleistungen, die fast alleine für den Wachstumsschub 2022 verantwortlich sind.
Dazu erwartet das Land eine äußerst junge Bevölkerung, die auf den Arbeitsmarkt strömt. Die Chancen stehen gut, eine demographische Dividende einzufahren: die Versorgung der vorangehenden kinderreichen Generation kann auf viele Schultern aufgeteilt werden, während die im Erwerbsleben stehende viel weniger Kinder bekommt, für deren Bildung und Erziehung sie aufkommen muss. Dies bedeutet eine hohe Sparrate, die investiert werden kann, was schließlich zu einem entscheidenden Motor der indischen Wirtschaft wird. Indiens demographischer Wandel vollzieht sich gradueller und weniger abrupt als in vielen ostasiatischen Staaten oder China, welches gerade die volle Wucht einer abnehmenden Erwerbsbevölkerung zu spüren bekommt.
Eine große Herausforderung ist es jedoch, diese jungen Menschen in produktive Beschäftigung zu bringen und ihnen die erforderliche Ausbildung zukommen zu lassen. Dies betrifft insbesondere Frauen, deren Beschäftigungsraten zuletzt immer weiter gesunken sind. Insgesamt könnte dies zu einer Steigerung der Kaufkraft der Mittelschicht führen, die bis 2025 mit 580 Millionen Menschen in 140 Millionen Haushalten etwa 41 Prozent der indischen Bevölkerung umfassen soll.
Langfristige Reformen machen sich bezahlt
Gelingt dieser demographische Wandel, bescheinigt Goldman & Sachs dem Land bis zum Jahr 2075 zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aufzusteigen. Das Investment-Unternehmen erwartet etwa um 2030 das Einsetzen eines annähernd exponentiellen Wachstums. Der indische Goldman Sachs-Analyst Santanu Sengupta erläutert, das Land habe viel größere Fortschritte in den Bereichen Innovation und Technologie gemacht als allgemein bekannt ist. Dem Land sei ein gewaltiger Sprung bei der Digitalisierung der Wirtschaft gelungen. Dies befeuert die Produktivität der Arbeiter im Land.
Die Grundlagen dafür, Indiens Wachstumspotenzial auszuschöpfen, waren erste ökonomische Liberalisierungen in den 1980er Jahren, die sich in den 90ern noch intensivierten. Ab 2014 wurde im Rahmen der „Make in India“-Initiative sehr stark in Infrastruktur investiert, deren Herzstück elf industrielle Korridore quer über den Subkontinent bilden und das Land für die Industrialisierung erschließen sollen. Neben Straßen und Eisenbahnen sollen vor allem Smart Cities mit modernster High-Speed-Kommunikation die Grundlagen für eine Industrie 4.0 bilden. Dies zog auch ausländische Investitionen an, Japan etwa verdoppelte seine Direktinvestitionen von 2013 auf 2017 von 273 Millionen auf 618 US-Dollar.
Neben der Infrastruktur wurde innerhalb der Make in India-Initiative die Erleichterung von Geschäftstätigkeit („Ease of doing business“) als der alles entscheidende Faktor identifiziert, um die Generierung von Wohlstand anzukurbeln. Die Grundlagen hierfür bilden neben dem Ausbau der Produktionsinfrastruktur, die Reduktion von Hürden für Geschäftstätigkeit, Begünstigung von Innovationen, Ausbildung und Entwicklung beruflicher Kompetenzen und der Schutz geistigen Eigentums. Diese Bemühungen tragen nun Früchte. Das Land erfährt einen konstanten Ausbau von Fabrikkapazitäten. So entging man auch dem Schicksal eines industriellen Einbruchs, wie er gerade viele Hochlohnländer heimsucht.
Der Einkaufsmanagerindex (PMI) zeigt im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in eine positive Richtung. Der PMI ist einer der verlässlichsten Frühindikatoren für die Entwicklung der industriellen Produktion eines Landes.
Dazu benötigt die wachsende und wohlhabender werdende Bevölkerung immer mehr Ressourcen. Der Bedarf an Kohle, Eisenerz und Kupfer soll sich bis zum Ende des Jahrzehntes verdreifachen. Auch erhöht sich im Zuge der Urbanisierung und Industrialisierung die Nachfrage nach kritischen Mineralien wie Gold oder Lithium. Dies führt dazu, dass der heimische Minen-Sektor rasch reformiert werden muss, um die Exploration und den Abbau der heimischen Reserven zu maximieren und mit der steigenden Nachfrage mithalten zu können. Ebenso müssen heimische Energiereserven nutzbar gemacht werden, um die teuren Importe fossiler Energien zu ersetzen – immerhin möchte das Land bis 2030 die Hälfte seines Stromes aus nicht-fossilen Quellen decken und bis 2070 gänzlich klimaneutral sein. Dazu werden bis 2030 500 Gigawatt erneuerbarer Stromkapazitäten installiert, sowie grüner Wasserstoff und Elektro-Autos gefördert – längst gehören elektrische Tuk Tuks zur Produktpalette indischer Produzenten.
Die Wachstumssektoren der indischen Wirtschaft
Die Computer-Affinität der Inder ist längst Legende. IT-Dienstleistungen, vor allem durch Outsourcing amerikanischer und britischer Unternehmen auf den Subkontinent, machten 2022 den größten Teil der Exporte des Landes aus, ebenso wurden andere Dienstleistungen, etwa im Transport, Unternehmensdienstleistungen oder Kommunikation, exportiert. Ohne diesen Export von Dienstleistungen wäre die Handelsbilanz des Landes negativ – auch dies unterstreicht noch einmal die Wichtigkeit der Dienstleistungen als tragende Säule der indischen Wirtschaft. Mit 21,5 Prozent wuchsen die Kredite im Dienstleistungssektor am stärksten.
Trotz der enormen Modernisierung des IT- und Produktionssektors bleibt die Landwirtschaft nach wie vor die Haupteinnahmequelle von etwa 150 Millionen Indern, die auch traditionell das Rückgrat der indischen Wirtschaft bildet. Trotz hoher Zinsen wuchsen die Bankkredite für landwirtschaftliche Investitionen und verwandte Tätigkeiten um 14,4 Prozent, was letztendlich auch auf Regierungssubventionen für Kredite und Düngemittel über 20 Billionen indischer Rupien (240 Millionen US-Dollar) zurückzuführen ist. Weitere Unterstützung soll durch die Ausweitung der digitalen Infrastruktur erfolgen. Dies ermöglicht die Beschleunigung des technologischen Wandels durch bessere Informationen für die Anbauplanung, Automatisierung und Öffnung für lukrativere Geschäftsmodelle von Start-Ups sowie Agrotechnik-Unternehmen. Weiters sollen Lager- und Transportkapazitäten verbessert werden, neue hybride Sorten und resiliente Saatgüter eingeführt werden. Diese konstante Schließung der Produktivitätslücke soll schließlich zu einer Vervierfachung der landwirtschaftlichen Einkommen führen.
Auch als Apotheke der Welt hat sich Indien einen Namen gemacht. Hier wird die weltweite Nachfrage nach Gesundheitsleistungen und Medikamenten ebenso konstant steigen. Mit 20 Milliarden US-Dollar Export pharmazeutischer Produkte in 2022 deckte man etwas mehr als die Hälfte der Nachfrage nach Impfstoffen, 40 Prozent der US-Nachfrage nach Generika und 25 Prozent der Medikamente, die in Großbritannien verkauft werden. Insbesondere während der COVID-19-Pandemie erweiterte das Land zum einen seine Kapazitäten zur Produktion von Generika, andererseits auch jene für Forschung und Entwicklung.
7 Prozent des indischen Bruttoinlandproduktes und 15 Prozent der Exporte machen die Produktion von Edelsteinen und Schmuck aus und längst hat man sich auch internationale Märkte für Maschinenbau und die Produktion von elektronischem Equipment erschlossen.
Indien – Ein Dienstleistungsriese erwacht
Elektrische Tuk Tuks gehören längst zum Inventar indischer Städte. (Quelle: shutterstock/PradeepGaurs, 2016)
Auch stimmen die bisherigen Erfolge optimistisch. Dem Land ist es gelungen, seine Ziele bei der Armutsbekämpfung zu übererfüllen und die Grundlagen eines modernen, digitalisierten Produktionssektors zu schaffen. Mit Straßen und Smart Cities wachsen neue Strukturen aus dem Boden, die den Bewohnern neue Möglichkeiten eröffnen. Damit einher geht auch ein neuer Rohstoffhunger, von dem das Land noch beweisen muss, dass es ihn decken kann.
Von Maschinenbau über Medikamente und Schmuck hat der Subkontinent der Welt viel zu bieten. Mit den richtigen Strategien und schlauen Reformen wird es Indien gelingen, sich dauerhaft einen wichtigen Platz in der Weltwirtschaft erobern, wie er dem mit 1,4 Milliarden Einwohnern größten Land der Welt zusteht.