Seit dem Angriffskrieg des Kremls auf die Ukrainewird viel über den Zustand der russischen Wirtschaft gerätselt. Längst unterliegen Daten des russischen Statistikamtes der Geheimhaltung oder es bestehen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der veröffentlichten Daten. Schätzungen internationaler Organisationen wie der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF) gehen von einem Einbruch bei der Produktion von russischen Waren und Dienstleistungen von mehr als drei bis viereinhalb Prozent aus – russische Institutionen, wie die Zentralbank und das Wirtschaftsministerium Russlands sehen die Entwicklung naturgemäß positiver und schätzen den Einbruch auf weniger als drei Prozent.
Zurückzuführen sind die wirtschaftlichen Einbrüche insbesondere auf Sanktionen durch den Westen. Zahlreiche Komponenten und westliches Know-how fehlen, um Waschmaschinen und Autos in den heimischen Werken und Fabriken zu bauen. Als der Krieg in der Ukraine los- und die Sanktionen über Russland hereinbrach, waren zahllose Russen auf der Suche, ihre Ersparnisse in langlebigeren Konsumgütern wie Autos, Möbeln und technischen Geräten zu investieren, um einer eventuellen Inflation zu entgehen. Diese erreichte schnell Höhen von 12 bis 14 Prozent, vergleichbar mit jenen in Europa. Doch waren diese Güter bei Weitem nicht in dem Ausmaß verfügbar, wie sie nachgefragt wurden. Dies ist auch an den Preisanstiegen einzelner Kategorien ersichtlich: ganz vorne dabei sind Haushaltsgüter und Möbel, Gesundheitsgüter, die zum größten Teil im Ausland hergestellt werden, jedoch auch elektronische Güter. Dass der Einbruch nicht noch stärker ausgefallen ist, ist darauf zurückzuführen, dass die Energiepreise weltweit nach wie vor hoch sind und Devisen in die Kriegskasse des Kremls spült. Ein viel größeres Rätsel bleibt die Produktion von Waren und Dienstleistungen. Mit den Sanktionen gehen zahlreiche Einschränkungen einher, für die die russische Wirtschaft nicht einfach einspringen kann, etwa bei Sicherheitssystemen für Autos, Mikrochips oder anderen Bauteilen – doch ebenso wenig weiß man, wie viele der Produktionsengpässe in diversen Pressemeldungen auch nur auf den Überschwang diverser Redakteure zurückzuführen ist.
Das schrittweise Absenken der Zinsrate durch die russische Zentralbank mit November auf 7,5 Prozent von einem Hoch im Mai von 20 Prozent deutet allerdings auf eine Entspannung der Teuerung hin. In Kombination mit der reichlich vorhandenen günstigen Energie wird man so attraktiver für Investitionen im Inland. Auch der russische Manufacturing Purchasing Managers Index (PMI) deutet darauf hin, dass sich die Auftragsbücher russischer Firmen nach einer Durststrecke während der vergangenen Monate wieder füllen, nachdem diese seit Kriegsbeginn im negativen Bereich herumgedümpelt waren. Dieser Index gilt als Frühindikator für die geschäftliche Entwicklung im verarbeitenden Gewerbe und gibt Auskunft, wie sich die Produktion von Gütern in der Zukunft entwickelt. Über dem Wert 50 deutet dieser eine Ausweitung der Produktion an, während ein Wert unter 50 auf einen Produktionsrückgang in der Zukunft hinweist. Bei 50 ist dies ein neutraler Wert. Im internationalen Vergleich ist Russland tatsächlich wieder auf sein Durchschnittsniveau vergangener Jahre zurückgekehrt – während es mit seinem Wirtschaftskrieg Vergleichsländern wie den USA und Deutschland beträchtlichen Schaden zufügt – deren Auftragslage verschlechtert sich konstant.
PMI Manufacturing ausgewählter Länder
Russlands Wirtschaft ist somit resilienter als von vielen angenommen. Im Gegensatz zu Europa ist in Russland Energie im Überfluss vorhanden und aufgrund von Produktionsschließungen zahlreicher westlicher Unternehmen liegt sehr viel Nachfrage im Land brach. Es wäre nicht überraschend, wenn hier mittelfristig ein Investitionsboom einsetzen würde, wo russisches Kapital westliches ersetzt, ähnlich wie in der Landwirtschaft nach dem Schlagabtausch in Form von Sanktionen im Zuge der Annexion der Krim 2014.Seitdem hatte Russland seinen Output an landwirtschaftlichen Produkten enorm gesteigert. Durch die Abkoppelung der russischen von der westlichen Wirtschaft könnten sich hier zahlreiche Möglichkeiten für die russische Investoren selbst ergeben. Die dort produzierten Güter wären höchstwahrscheinlich von niedrigerer Qualität, doch zumindest günstiger und für die breite Bevölkerung leistbar.
Neue Ideen haben es schwer in Russland
Doch krankt Russlands Wirtschaft schon sehr viel länger an seinen Strukturen, die neu aufkommendem Unternehmertum hinderlich ist. Während andere Weltregionen, allen voran China und sogar Indien, die Liberalisierung der Weltmärkte in den 1990ern für sich zu nutzen wussten, um wertvolle Marktanteile für sich zu sichern, dümpelt Russland vor sich hin, ohne nennenswerte Entwicklung. Ganz im Gegenteil folgte auf jede globale Krise, etwa die Pleite von Lehman-Brothers 2008 und der darauffolgenden Weltfinanzkrise oder COVID-19 ein weiterer Absturz, von dem sich die russische Gesellschaft nicht zu erholen vermochte. Dabei schaffte man es sogar, seinen eigenen Internetkonzern Yandexhervorzubringen, der in der russischsprachigen Welt selbst vor Google liegt, immerhin etwas, dass das alte Europa nicht vermochte. Doch die politische Einflussnahme des Kremls auf den IT-Giganten in Form von Abschöpfen von Daten sowie dessen Medienpropaganda droht nun selbst dieser Erfolgsgeschichte den Garaus zu machen. Spätestens seit dem Februar 2022 gibt die Suchmaschine keine Homepages mehr aus, die nicht vom Kreml abgesegnet wurde. Heute ist das Unternehmen sogar vom Konkurs gefährdet, aufgrund fehlenden Kapitals und Hardwarelieferungen aus dem Westen.
Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt (in Prozent).
Zwar erscheint das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf kaufkraftbereinigt durchaus mit der globalen Entwicklung mitzuhalten. Dabei muss man jedoch bedenken, dass sich ein Gutteil des russischen BIPs aus Rohstoffen speist, die in Form von Gas und Öl an den Rest der Welt verkauft werden. Entsprechend volatil ist die Kurve auch im Vergleich zu China oder Indien. Während die Kurven dieser beiden Länder langsam aber konstant nach oben steigen, ist die Kaufkraft der Russen extrem abhängig von internationalen Rohstoffpreisen, die beispielsweise nach der Lehman-Brothers-Pleite ins Bodenlose sanken.
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf Russlands, Chinas und Indiens
Dazu kommt, dass die Einkommen in Russland sehr ungleich verteilt sind – ein durchschnittliches BIP pro Kopf sagt somit kaum etwas über den breiten Lebensstandard der einzelnen Bürger innerhalb Bevölkerung aus, wenn sich die Einnahmen nur auf einzelne Oligarchen konzentrieren und viele andere leer ausgehen. Die Entwicklung für die einzelnen Russen legt schließlich die Entwicklung der Haushaltseinkommenoffen. Diese sinken kontinuierlich und russische Haushalte verloren innerhalb eines Jahrzehntes praktisch ein Drittel ihrer Kaufkraft von 43.000 US-Dollar (KKP) im Jahr 2010 auf gerade einmal 27.000 im Jahr 2021.