Bereits seit mehreren Jahren wandte sich Russland immer mehr vom Westen ab, was zuletzt in der groß angelegten Invasion der Ukraine gipfelte, die kaum jemand erwartet hatte und deren Sinn sich noch viel wenigeren erschließt. Welche Intention steckt hinter dem teils irrational anmutenden Verhalten des Kremls, das an die Machtpolitik vergangener Jahrhunderte erinnert? Insbesondere die Anfangsphase des vom Kreml als „militärische Spezialoperation“ bezeichneten Krieges gegen die Ukraine gab vielen Analysten im Westen Rätsel darüber auf, was diese in ihrer stümperhaften Ausführung überhaupt bezwecken sollte. Selbst in Russland fragten sich die meisten nach dem Sinn, und erst als zahlreiche westliche Firmen ihre Pforten schlossen, sammelten sich viele Russen hinter Putin. Sie empfanden es als einen direkten Angriff auf ihren persönlichen Lebensstil und teilweise sogar auf die eigene wirtschaftliche Existenz.
Darüber hinaus verlief der russische Angriffskrieg alles andere als erwartet. Er war geprägt von Selbstüberschätzung, schlechter Vorbereitung und miserablem Informationsstand. Zahlreiche Soldaten der weißrussischen Armee weigerten sich den Befehl auszuführen, im Westen der Ukraine die Armee des Nachbarlandes vom Nachschub westlicher Hightech-Waffen abzuschneiden. Zudem war die russische Truppe uninformiert und in vielen Fällen selbst dann noch im Glauben, sich in Manövern zu befinden, als sie die Grenze zur Ukraine schon längst überschritten hatten. Als fatal erwies sich außerdem, dass man die Kampfmoral der Ukrainer massiv unterschätzt hatte. Anstatt der erwarteten Unterstützung der Zivilbevölkerung schlug den Russen deren blanker Hass entgegen. Noch bevor die Kriegsverbrechen und Plünderungen in Butscha und anderen Städten publik wurden, mobilisierte sich die ukrainische Zivilgesellschaft, um die eigene Armee logistisch zu unterstützen. Mechaniker schweißten Stahlspinnen, IT-Angestellte buken Brot und zahlreiche Ukrainerinnen, die ins Ausland geflüchtet waren, nutzten die während Corona geschaffenen Möglichkeiten des Homeoffice, um ihre Familien zu finanzieren, während sie ehrenamtlich Geld sammelten und Ausrüstung von Splitterschutzwesten über Verbandsmaterial organisierten.
Zur selben Zeit schalteten hochmotivierte ukrainische Soldaten mit westlichen Panzerabwehrwaffen und türkischen Drohnen die kilometerlangen russischen Kolonnen aus, die auf den Hauptverkehrsstraßen auf die Ballungszentren des Landes in Schrittgeschwindigkeit zukrochen. Das Ausmaß der Verluste ist umso erstaunlicher, da Russlands Militär bereits auf dieselben Taktiken in Aserbaidschan und Libyen getroffen war, wie wir in dem Beitrag „Eurasiens Energiedealer“ näher erläutern werden. Anstatt die Millionenstädte Kiew, Odessa oder Charkiw wie im Vorbeigehen zu erobern, bombt man sich stattdessen nun in einem Abnutzungskrieg im Osten Haus für Haus voran – und selbst dort ist der Feldzug von Rückschlägen gezeichnet. Dennoch zerstört die russische Armee dabei die Lebensgrundlagen des Landes: sowohl der Großteil der industriellen Produktion als auch Agrarflächen befinden sich in den verheerten betroffenen Gebieten. Selbst ohne russische Armee im Land würde es die zukünftige Ukraine schwer haben, nach dem Krieg wieder zu einem lebensfähigen Staat zu werden.
Ob die Ukrainer sich dabei auf Europa verlassen können, ist fraglich, wie wir in dem Beitrag „Die Schoko-Kriege“ über das Land vor 2014 berichten werden. Denn während der Kreml seine Kriegsziele auf ein realistisches Maß zurechtgestutzt zu haben scheint, machen europäische Politiker und Medien den Eindruck, ihren Gegner konstant zu unterschätzen. Wie bereits bei Ausbruch der COVID-19-Pandemie starrt man hierzulande auf Dashboards mit Gasspeicherständen und stimmt die Bevölkerung auf kurzfristige Opfer ein: ein paar Monate kalt duschen, ein etwas dickerer Pulli. Doch wie bereits während der Pandemie werden auch hier die langfristigen, viel tiefgreifenderen Auswirkungen ignoriert: Geht alles gut, gelingt uns Europäern ab nächstem Jahr, unsere Energieversorgung zu stabilisieren. Man gibt sich offensichtlich der Illusion hin, dass dies gleichzeitig auch mit günstigeren Preisen einhergehen würde. Dabei planen längst schon energieintensive Unternehmen, vom Metallverarbeiter bis zum Kühlschrankproduzenten, ihre Verlagerung der Produktion.
Denn die Vorstellung, irgendeine Energiequelle ob Solaranlagen oder Wasserstoffleitungen könnte billiger Energie liefern als eine bereits zu Sowjetzeiten abgeschriebene Pipeline aus Russland, ist schlicht surreal. Wie man es bereits aus den vergangenen Krisen kennt, die uns Europäer in zwei Lager polarisierten, starteten wir auch in diesen Wirtschaftskrieg mit einem Sprint, obwohl es sich tatsächlich um einen Marathon handelte. Ohne einen Gedanken an die drohenden Verteilungskonflikte oder den Durchhaltewillen der eigenen Bevölkerung zu verschwenden. In Ungarn gewann Viktor Orban mit seiner dezidiert neutralen Haltung gegenüber den beiden Kriegsparteien erneut die verfassungsgebende Mehrheit. In Frankreich begannen, trotz seiner europaweit niedrigsten Inflationsrate, die Umfragewerte der beiden russlandfreundlichen Blöcke links und rechts der Mitte mit Kriegsbeginn zu steigen während der neu gewählte Präsident Macron bei den Parlamentswahlen seine Mehrheit verlor. Auch bei Italiens Parlamentswahlen scheint das rechte Protestlager gute Chancen auf einen Sieg zu haben. Die Leidtragenden könnten am Ende erneut die Ukrainer sein, womit die Strategie des Kremls mittelfristig doch noch aufgehen würde: Schon heute bröckelt die Solidarität unter hochschießenden Preisen und einer aufziehenden Rezession.
Charakteristische gelbe Gaszähler des russischen Monopolisten Gasprom. Vor allem in den armen Gegenden in Zentralasien entscheidet Russlands verbilligtes Gas oft über Kochen und Heizen während bitterkalter Winter. Gehen die Eliten des Westens bei ihren Sanktionen nicht sensibel vor, drohen hier massive Verwerfungen innerhalb der Länder bis hin zu deren Destabilisierung. Hier in Kond, einem der ältesten Wohnviertel der armenischen Hauptstadt Jerewan die charakteristischen gelben Gaszähler des russischen Monopolisten Gasprom. (Quelle: eigene)
Ebenso wenig scheinen europäische Politiker die Konsequenzen in Betracht zu ziehen, wenn sie Ländern, wie Serbien, Indien oder Afrika die Pistole auf die Brust setzen und zur Entscheidung zwingen: entweder für unsere liberalen demokratischen Werte oder für billige Energie aus Russland. Eine gescheiterte Strategie, die bereits die Ukraine auseinandergerissen hatte. Zur selben Zeit kauft Europa mit seiner überwältigenden Kaufkraft die LNG-Märkte der Welt leer und gefährdet damit die Energiesicherheit aufstrebender Länder Asiens. Dies musste Sri Lanka bereits am eigenen Leib erfahren und Pakistan oder Bangladesch drohen, an die Schwelle zur Zahlungsunfähigkeit zu kommen. Mit fatalen Konsequenzen, nicht nur für deren hunderte Millionen Einwohner, auch für die Erreichung der internationalen Klimaziele: Die hohen Preise für LNG gefährden heute bereits die Investitionen in Kapazitäten, wie LNG-Terminals und Gaskraftwerke in Ostasien. Während Deutschlands Wirtschaftsminister LNG jedoch lediglich als kurzfristige Stabilisierungsmaßnahme sieht, war es im asiatischen Raum als Brückentechnologie zu einer insgesamt klimafreundlicheren Energiegewinnung gedacht. Ist deren Wirtschaftlichkeit nun aufgrund der hohen Preise gefährdet, bleibt Schwellenländern in Asien nur der Rückgriff auf schmutzige Kohle oder auch Russland.
Im Gegensatz dazu denkt der Kreml nicht nur zeitlich in völlig anderen Maßstäben, sondern auch geographisch. Wer zum ersten Mal in Moskau ankommt, besucht kein Dorf, sondern taucht zuerst in eine multikulturelle Metropole ein. Man begegnet Einwanderern aus Usbekistan, Tadschikistan und anderen zentralasiatischen Ländern, die als billige Arbeitskräfte Botendienste und Hilfsarbeiten erledigen. In der Innenstadt tummeln sich Geschäftsleute aus den Ländern des Fernen Ostens – wobei dem Außenstehenden verborgen bleibt, ob es sich um Chinesen, Koreaner, Japaner oder doch um russische Staatsbürger aus Sibirien handelt. Wenn der Kreml denkt, so tut er dies in eurasischen Dimensionen von der finnischen Ostsee über den mit Bergen und Volksgruppen zerklüfteten Kaukasus und den rohstoffreichen zentralasiatischen Ländern bis zum japanischen Meer.
Russlands eurasische Dimensionen. Aus den herkömmlichen Kartenprojektionen in Atlanten gehen nur selten die tatsächlichen geographischen Ausmaße der Russischen Föderation hervor und noch viel seltener, welche geopolitischen Konsequenzen die Gedankengänge im Kreml daraus beeinflussen. (Quelle: googleearth.com)
Unter dem Eindruck eines durch die Finanz- und Eurokrise geschwächten Europas, hatte der russische Präsident Wladimir Putin bereits 2012 beim Gipfel der Asian Pacific Economic Cooperation (APEC) in Wladiwostok eine Umorientierung nach Osten, ins aufstrebende Asien verkündet. Dabei hatte er als Hauptprofiteur die Stadt Wladiwostok im Sinn, die zu einem fernöstlichen San Francisco werden sollte. Erst mit Putin kehrte der russische Staat um die Jahrtausendwende überhaupt als handlungsfähiger Akteur hierhin zurück, nachdem der Föderationskreis Ferner Osten in den 1990ern fast vollständig der Mafia preisgegeben worden war und die Rechtsprechung eher dem Wilden Westen glich als der eines modernen Industrielandes. Unter dem eigens dafür gegründeten Ministerium für die Entwicklung des russischen Fernen Ostens wurde in Transport, Energie und Industrie investiert. Auch Flugtickets in die Hauptstadt wurden subventioniert. Viele der Einwohner reisten nämlich regelmäßig nach Seoul, Tokio oder Peking die Flüge in die eigene Hauptstadt waren jedoch bisher für viele bisher nicht erschwinglich. Doch blieb der erhoffte Entwicklungsschritt aus. Weder westliches Kapital noch China investierten im erhofften Ausmaß und die Bevölkerung kehrte der Region den Rücken.
Sonnenaufgang über dem Businesscenter Moskaus. Viel Pomp in Moskau und St. Petersburg ist nur durch die gewaltigen Rohstoffeinnahmen Sibiriens möglich. (Quelle: Sergey Dzyuba, 2022)
Durch den Bruch mit dem Westen, wird diese Gegend und deren Rohstoffreichtum erneut in den Mittelpunkt russischer Politik rücken. Während der Kreml durch die Invasion der Ukraine die Kluft mit dem Westen vertieft hat, werden hier im Osten die Karten neu gemischt. Aufgrund der gewaltigen Ausmaße von Russlands Staatsfläche und kaum natürlicher Grenzen, wie Flüsse oder Gebirge, sieht man sich selbst im Kreml ständig bedroht und dazu genötigt, die eigenen Interessensphären zu wahren, ob in seinem fast menschenleeren Fernen Osten rund um Wladiwostok gegenüber China, den USA, die über Afghanistan nach Zentralasien vordringen wollten, oder der NATO in Osteuropa. Dabei birgt das Land selbst zahllose Widersprüche: die glänzenden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg, die durch den Rohstoffreichtum Sibiriens und Zentralasiens betrieben werden, während die Städte an den Quellen von Öl und Gas oft aus bettelarmen Plattenbausiedlungen bestehen, in denen Alkoholismus und eine Opium-Pandemie unter der Bevölkerung wütet. Zahllose Junge besuchen die Universitäten, nutzen die globalisierte Weltwirtschaft, um ihr Leben zu meistern. Dazwischen pflegen indigene Stämme ihre nomadischen Traditionen als wäre das neue Jahrtausend an ihnen vorübergegangen. Innerhalb russischer Grenzen treffen Juden und Buddhisten auf schiitische und sunnitische Muslime. Neben Russisch sprechen die Völker in den mehr als 90 Verwaltungssubjekten Finnisch, Mongolisch, Persisch und Turksprachen.
Eine halbnomadische Familie aus Rentierzüchtern zieht unter einer Gaspipeline des Erdgasversorgers Gasprom auf ihrer jährlichen Migration durch. (Quelle: Gasprom, 2021)
Die ebenso aus dem Zusammenbrauch der Sowjetunion hervorgegangenen Länder Kasachstan und Armenien hadern noch mit ihrem Schicksal, zutiefst mit der russischen Wirtschaft verflochten zu sein, während sie aber andererseits durch eine Öffnung Richtung Westen sehr stark profitieren möchten. Aserbaidschan fand seinen Partner in der Türkei. Die Länder Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan und Kirgistan an der afghanischen Grenze finden daran Gefallen, trotz jahrhundertelanger Kolonialzeit von Moskau in ihrem Autoritarismus und kruden Personenkult unterstützt zu werden. Während dieses Modell für Weißrusslands Führer Lukaschenko ebenso attraktiv erscheint, könnte der „letzte Diktator Europas“ die Rechnung ohne sein Volk gemacht haben, das seit mehreren Jahren immer wieder für mehr Freiheit auf die Straße geht. Im Gegensatz dazu ist für Georgier oder Moldawier klar: Auch wenn der Weg noch weit ist, möchte man den baltischen Staaten folgen und in der Europäischen Union aufgehen. Grund genug für Russland, sie konstant zu bedrohen, auseinandergerissen zu werden. Am Ende war jedoch kein anderes Land einer solch umfassenden und langanhaltenden Gewaltaktion ausgesetzt wie die Ukraine. Und allen Unterstützungen und Hightech aus Westeuropa und den USA zum Trotz: die Mehrheit der Kampf- und Schützenpanzer sowie die größten finanziellen Belastungen stellten die osteuropäischen Länder Tschechien, Polen, das Baltikum und Bulgarien. Am Ende handelt es sich somit weniger um einen Kampf der demokratischen Werte des Westens als vielmehr um einen Krieg der Osteuropäer gegen ihren alten Hegemon in Moskau.
Die ganze Geschichte in der „Postsowjetischen Welt – Vom Untergang des Kommunismus bis zur Invasion der Ukraine“.