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Ukraine: 2023 erholt sich das Land vom Krieg

Oblast Odessa: Ein Lkw mit Getreide in einem Schiffscontainer ist auf dem Weg zum Hafen von Odessa liegen geblieben. (Quelle: eigene)

Am 24. Februar wurden viele Ukrainer von Bomben geweckt. In einem Moment des Schocks brach das wirtschaftliche Leben vollkommen ein. Es herrschte Verwirrung unter der Bevölkerung wie man mit dieser neuen Situation umgehen sollte – von einem Tag auf den anderen änderte sich das Leben aller. Das Bild unten gibt einen groben Überblick, wie innerhalb kürzester Zeit die Produktion von Waren und Dienstleistungen zum Stillstand kamen. Der Weekly-Tracker der OECD vergleicht anhand von Google-Suchanfragen die wirtschaftliche Veränderung einer Kalenderwoche im Vergleich zur anderen (wobei diese aufgrund der chaotischen Bedingungen mit Vorsicht zu genießen sind). Produktion und Dienstleistungen wurden bereits durch die Corona-Beschränkungen beeinträchtigt. Innerhalb einer Woche sank die Wirtschaftsleistung um weitere 16 Prozentpunkte, was erstaunlich ist, denn es bedeutet, dass die Ukrainer zum größten Teil immer noch zur Arbeit erschienen und die Gesellschaft am Laufen hielten, während russische Invasionstruppen auf die städtischen Zentren zukrochen.

Allein im April 2022 schaffte man es sogar, mehr zu produzieren als in den Aprilwochen des Jahres 2021. In den Sommermonaten, als der Krieg in weiten Teilen der Ukraine tobte, Metropolen wie Odessa oder Charkiw belagert und der Rest des Landes bombardiert wurde, ging das wirtschaftliche Leben erneut zurück – erholte sich aber im September wieder deutlich, gerade als die Gegenoffensive der ukrainischen Armee an Fahrt gewann und die russischen Streitkräfte aus der Oblast Charkiw und später aus Cherson vertrieb. Zur gleichen Zeit begannen in der Hauptstadt Kiew die Clubs wieder zu öffnen. Sogar die ukrainische Eisenbahn verschickte Sparangebote für die Nutzung ihrer App:

 

(Quelle: eigene, 2022)

Diese Erholung kann man auch auf der Ebene verschiedener Wirtschaftssektoren beobachten. Cafés und Restaurants eröffneten wieder und machen erneut fast 80 Prozent ihres Umsatzes im Vergleich zum Vorkriegsniveau. Online-Bestellungen erreichten gar wieder ihr altes Niveau. Nach Angaben der ukrainischen Nationalbank werden sogar neue Unternehmen registriert, die U-Bahnen ziehen wieder Fahrgäste an, was insofern bedeutsam ist, da neben Kiew lediglich die Städte Odessa und Charkiw U-Bahnlinien betreiben – und vor allem letztere war im Juli noch unter schwerem Beschuss.

 

Gemäß einer Gruppe international anerkannter Ökonomen funktionieren Staatsführung und Institutionen noch. Der Staat ist in der Lage, Steuern einzuheben und Sozialtransfers zu überweisen, ebenso funktionieren nach wie vor die Zahlungs- und Bankensysteme des Landes.

Der Krieg kommt die Ukraine dennoch teuer zu stehen

 Der Krieg forderte jedoch bisher einen hohen Tribut der Ukrainer: Im Jahresvergleich zu 2021 ist die ukrainische Wirtschaft um 33 Prozent eingebrochen. Vor allem in den Regionen in der Nähe des Kriegsgebiets im Donbass, wie die nachstehende Karte zeigt (Stand: Juni 2022). Rund 422 Unternehmen sind ganz oder teilweise zerstört, mit einem geschätzten Gesamtwert von 8,1 Milliarden US-Dollar, so die Kyiv School of Economics und die ukrainische Regierung. Einschließlich Brücken, Straßen und weiterer Infrastruktur belaufen sich die wirtschaftlichen Verluste auf über 100 Milliarden US-Dollar. Dennoch haben sich Produktion und Wirtschaftsleben stabilisiert. Ausländische Hilfen stabilisieren den ukrainischen Haushalt, um die Kriegskosten zu decken. Polen gibt sogar fast ein Prozent seines BIP aus, um ukrainische Flüchtlinge unterzubringen und militärische Hilfe zu schicken. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche prognostiziert für das Jahr 2023 wieder Wirtschaftswachstum, das sich 2024 sogar auf 12 Prozent beschleunigen soll. Dabei wird jedoch davon ausgegangen, dass sich der Krieg weiterhin auf die östlichen Gebiete beschränken soll und das Abkommen mit Russland über den Export von Getreide über den Hafen von Odessa in Kraft bleibt. Aber auch, dass die internationale Hilfe den Wiederaufbau einleitet.

Die Zerstörungen wirken sich insbesondere auf die Industrieproduktion und die Landwirtschaft und damit auch direkt auf die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung aus. Die ukrainische Zentralbank rechnete mit einem Anstieg der Inflation auf 31 Prozent im Jahr 2022 und einem weiteren Preisanstieg um 20 Prozent im Jahr 2023, die Lebensmittelpreise kratzen in diesem Jahr sogar an der 50-Prozent-Marke. Diese Schätzung stammt allerdings vom Juli, die meisten Länder Europas und der Welt haben ihre Inflationsprognosen in der Zwischenzeit jedoch weit nach oben korrigiert – somit halten die Zahlen der Ukraine wohl ebensowenig. Außerdem handelt es sich bei den Schätzungen nur um einen Durchschnitt für alle ukrainischen Oblaste. Es überrascht nicht, dass die Preise in den Regionen am stärksten gestiegen sind, die am meisten von der russischen Invasion betroffen waren, allen voran Cherson. Die Abwertung der ukrainischen Währung, der Griwna, verteuert Treibstoffimporte und damit Mobilität und Energie. Dies wirkt sich auf die ukrainischen Streitkräfte aus, die zur Abwehr russischer Angriffe mobil bleiben müssen, sowie auf die Produktion, die auf Transportkapazitäten angewiesen ist.

Russland passt sich der neuen Normalität der Ukraine an

Nach mehreren beschämenden Niederlagen und ohne Aussicht auf militärische Fortschritte in der Ukraine hat der Kreml seine Strategie geändert und versucht, die soziale Infrastruktur der Ukraine auf breiter Basis und nachhaltiger zu schädigen, indem er die zivile Infrastruktur ins Visier nimmt. Wie so oft setzt das russische Regime die Abhängigkeit des modernen Lebens von Energie als Waffe ein. In jüngster Zeit wurde vor allem die ukrainische Strominfrastruktur in Mitleidenschaft gezogen und teilweise irreversibel beschädigt. Mit Schwärmen iranischer Drohnen versucht Russland, Stromknotenpunkte lahmzulegen, wie unten zu sehen.

Während die direkten Auswirkungen des Zusammenbruchs vom Strom- bis hin zu Wassermangel für das tägliche Leben der breiten Bevölkerung offensichtlich sind, könnten die langfristigen Folgen für das Land viel verheerender sein. Sie beeinträchtigen die finanzielle Basis der Unternehmen, die bereits in finanziellen Schwierigkeiten stecken und nun endgültig in den Konkurs getrieben werden. Besonders die ukrainische Industrie ist davon bedroht. Ein Großteil der Schwerindustrie und Stahlproduktion befindet sich in den östlichen Oblasten, die entweder von Russland besetzt sind oder sich in Reichweite der russischen Drohnen befinden. Vor dem Krieg war vor allem Dnipropetrowsk zusammen mit den Oblasten Charkiw und Saporischja das industrielle Kraftzentrum des Landes, die meisten wichtigen Stahlwerke des Landes befinden sich hier, Traktoren und Flugzeugteile für den internationalen Markt werden hier hergestellt, wie etwa das Traktorenwerk KhTZ in Charkiw. Die Graphik unten zeigt den Beitrag des jeweiligen Oblasts zur gesamtukrainischen Wertschöpfung.

Unglücklicherweise enden die schlechten Nachrichten zur wirtschaftlichen Eigenständigkeit der Ukraine noch nicht hier. Als einer der weltweit wichtigsten Exporteure von Agrarrohstoffen ist die Ukraine einer der Hauptexporteure bei der Ausfuhr von Sonnenblumenkernen, die bisher annähernd zu den weltweiten Ausfuhren beitrug. Wie die nachstehende Graphik zeigt, liegt jedoch auch ein Großteil der Anbauflächen für Sonnenblumen, Gerste und Raps ebenso im Osten der Ukraine. Neben ihrer Nähe zur Frontlinie waren viele der Flächen unter russischer Besatzung und seitdem vermint. Dies führt zu zusätzlichen Problemen bei der Feldarbeit, der Aussaat und der Ernte. Selbst lange nachdem die Kampfhandlungen beendet sind, wird es dies dem Land erschweren, Devisen aus dem Export von Agrargütern zu erhalten.

Im Zuge der COVID-Krise erlebte das Homeoffice auch in der Ukraine einen Boom. Die Arbeit von zu Hause mit dem Laptop wurde auch für viele Ukrainer zur Selbstverständlichkeit. Sie ermöglichte es Softwareentwicklern und Ingenieuren, IT- und andere Dienstleistungen für ausländische Unternehmen anzubieten. Neben vielen anderen Startup-Hubs etablierte sich vor allem Charkiw, die zweitgrößte Stadt des Landes als Outsourcing-Drehscheibe für globale Tech-Unternehmen. 95 Prozent der IT-Dienstleistungen der Stadt werden exportiert – zwei Drittel davon in die USA, so ein PwC-Report. Vor dem Krieg konnten IT-Ingenieure bis zu 3 bis 4.000 US-Dollar pro Monat verdienen. Diese neu entstandenen Einkommensmöglichkeiten dank Globalisierung und Digitalisierung half vielen Bürgern, ihre Familien während des Krieges zu versorgen.

 

Mit der neuen Strategie Russlands, das öffentliche Leben lahmzulegen, könnte die dieser Teil der Zivilgesellschaft noch härter getroffen werden. Bei ständigen Strom- und Internetausfällen wird es für Büroangestellte schwierig sein, Termine einzuhalten und mit ihren Kunden zu kommunizieren. IT-Firmen berichten bereits von Schwierigkeiten bei der Koordinierung ihrer Teams, die oft über verschieden Städte verteilt sind und somit nur zu unterschiedlichen Zeiten Zugang zu Strom und Internet haben. Die Leute improvisieren zwar mit Powerbanks und den Internet-Hotspots auf ihren Smartphones, berichten IT-Mitarbeiter. Dennoch könnte dies auf Dauer nicht helfen.

 

Putins Werk und Europas Beitrag

 

Unter diesen Bedingungen wird es schwierig sein, selbst die solidarischsten Kunden zu halten. Sogar bei einem ukrainischen Sieg und der Wiederherstellung der Stromversorgung werden viele dieser Kundenbeziehungen nie wieder in dieser Form aufleben, sollten diese einmal abbrechen. Dies könnte sogar eine viel größere Gefahr für die langfristige Funktionsfähigkeit der ukrainischen Gesellschaft darstellen als die russischen Bomben selbst. Unter dem ständigen Druck von Putins Angriffen auf zivile Ziele und die Unmöglichkeit unter solchen Bedingungen zu leben, beginnen ukrainische Väter darüber nachzudenken, ihre Familien nach Europa zu schicken, um sie vor dem bevorstehenden harten Winter zu bewahren. Auch die große syrische Wanderungsbewegung begann nach Einstieg der russischen Luftwaffe in den Krieg 2015, der die einzelnen Rebellengruppen nichts entgegenzusetzen hatten. Selbst nach Wiederherstellung der staatlichen Integrität Syriens fand das wirtschaftliche und soziale Leben bis heute nicht zu ihren alten Strukturen zurück.

Obwohl viele der ukrainischen Frauen, die aus der Ukraine flüchten, gut ausgebildet sind und sogar zum Teil in ihren alten Berufen arbeiten, haben sie dennoch nun mit anderen Problemen zu kämpfen: der Europäischen Bürokratie. Die ukrainischen Flüchtlinge müssen sich nach 90 Tagen Aufenthalt im Schengen-Raum registrieren lassen. Von diesem Tag an gelten die Steuer- und Arbeitsgesetze des Aufnahmelandes, die für die in der Ukraine ansässigen und selbst vom Krieg gezeichneten Unternehmen natürlich völlig undurchsichtig ist. Daher steht so manch ein ukrainischer Flüchtling vor einer schwierigen Entscheidung: in die Ukraine zurückkehren, mit der Gefahr den Arbeitsplatz zu verlieren. Oder in Europa bleiben – mit der Gefahr, den Arbeitsplatz in der Ukraine zu verlieren. Lediglich Kroatien bietet ein „Digital-Native“-Visum an, dass den Bedürfnissen dieser Flüchtlinge entspricht. Ironischerweise stapeln sich die ukrainischen hier mit russischen Flüchtlingen, die dem immer autoritäreren Regime Moskaus entkamen, in Küstenstädten wie Split oder Dubrovnik.

Dennoch: hochqualifizierte Ukraine könnten leicht in Europa Arbeit finden, doch wenn sich Europa die Filetstücke der ukrainischen Arbeitskräfte sichert, um seine Reihen an Fachkräften mit Flüchtlingen zu füllen, könnte dies die Funktionsfähigkeit der ukrainischen Gesellschaft insgesamt schwächen. Denn die meisten würden nicht in die Ruinen russischer Bombardierung zurückkehren und mithelfen, ihr Land wieder aufzubauen. Stattdessen werden sich viele dauerhaft in Europa niederlassen, während hunderttausende traumatisierter Veteranen, hauptsächlich der Arbeiterklasse ohne Perspektive in ihren ländlichen Dörfern zurückkehren. Etwa ein Fünftel der Todesopfer des Krieges bis zum Februar 2022 waren Veteranen, die Selbstmord begangen hatten. Das Leben in der Ukraine war für viele ihrer Bürger bereits ein hartes Brot, doch je länger der Krieg wütet, desto mehr wird das soziale und wirtschaftliche Gefüge schwinden. Neben der aktuellen Lieferung von Waffen wird es die Aufgabe Europas sein, die ukrainische Zivilgesellschaft zu bewahren, die in der Lage ist, das Land wieder aufzubauen. Doch aktuell zeigt sich, wir könnten besser sein.

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